»KURZGESCHICHTE«
Aufgerollte Zeit
Als Privatier ist Kurt daran interessiert die Welt des Müßiggang im Zeitalter der Digitalisierung zu erforschen. Sie muss sich gewandelt haben, denn es gibt ihn nicht mehr, zumindest nicht so, wie er ihn kannte. Egal wo er hinsah, es fehlte die entspannte Haltung dem Lauf der Dinge gegenüber. Alles schien aus den Angeln zu geraten, was zu einer Stimmung führte die ihn zusehens ängstigte. Auch in Kurts Nachbarschaft war das spürbar. Die Fahnen in den Anwesen gaben Auskunft über die Gesinnung der Bürger: Fränkisch, bayrisch, deutsch. Europäisch eigentlich nicht, dann eher noch sagen die Fahnen das hier Piraten wohnen, oder solche die das gut finden würden, wenn Sie selbst ein bischen mehr so wären, wie man es von echten Piraten erwartet. Kurt hatte keine Fahne im Vorgarten, nur einen Apfelaufkleber auf dem Kombi.
Zunächst mochte er es nicht glauben das sein Päckchen schon heute kommen würde, aber als er den Postbus auf den Hof fahren sah, wußte er das sich der etwas tröge Tagesanfang noch wandeln konnte. Er hatte bei ebay eine russische Kamera aus dem Jahr 1961 gekauft, und, wie er es schon so oft getan hat, die Werkzeuge für eine Inspektion und die folgende Reparatur gleich nach der Bestellung parat gelegt. Die Kamera kam aus Kiew und übte wegen ihrer Machart, – alles aus Metall und rein mechanisch und wegen des Mythos welcher der Marke Zorki anhaftet eine besondere Anziehung auf Kurt aus. Auch weil er im gleichen Jahr geboren war indem die Kamera gefertigt wurde. Auch seine Familie kam aus dem wilden Osten Europas. Er wollte das mechanische Wunderwerk aus dem Ostblock haben.
Kurt Semper hatte schon einiges an Routine bei der Aufarbeitung alter analoger Kameras gesammelt. Die Mittelformate waren ihm lieb und auch teuer. Die großen Brummer mit drei bis vier Kilogramm: Mamiya RB, Pentax 67, Pentagon Six, auch eine Moskva Sucherkamera und diverse Biloras hat er restauriert. Damit sind im Laufe der Jahre besondere Bilder entstanden, die ganz anders als jedes Bild einer digitalen Kamera wirkten. Sie sind kostbar und entsprechen oft nicht den Erwartungen. Daher sind analoge Bilder auch immer eine Überraschung. Doch bevor an die Belichtung eines Filmes gedacht werden kann, muß die Kamera überarbeitet werden. Er wußte, das bei den ganz alten Geräten die Dichtungen manchmal noch gut waren, weil sie nicht aus Schaumstoff gefertigt waren der sich in Laufe von Jahrzehnten in eine klebrige Masse verwandelte. Der erste Eindruck war durchaus gut. Ein wahre Schönheit diese Zorki 3c. »Nur komisch, das das Zählwerk nicht auf Null steht«, sagte er zu sich, als er die Kamera auf die Werkbank legte.
Mittlerweile sind zu Kurts bedauern noch einige Sachen zu erledigen, bevor er sich der Zorki widmen kann. Doch auch während seiner Besorgungen, – Brot, Butter und Bier waren aus gegangen, ließ ihn der Gedanke an das Zählwerk der Sucherkamera nicht los. »Was, wenn da noch ein Film drin ist?« Im Drogeriemarkt nam er einen Schwarzweißfilm von Ilford für einen ersten Test mit. Und tatsächlich, am Abend als Ruhe im Haus einkehrte wurde klar, das ein belichteter Film in der Kamera war. Wider erwarten ließ sich das Zelluloidband in die Dose kurbeln und ohne das Licht einfiel konnte er ihn aus der Kamera nehmen. Die Filmdose hatte keinen Markenauflkeber, sah anders aus als er es kannte. Trotzdem wollte er den Film zur Entwicklung geben. Er hatte da ein gutes Fachlabor in der Hohenzollenstrasse an der Hand. Die haben ein Gespür für so was und kennen sich mit diesen empfindlichen und unwiederbringlichen Materialien aus. Selbst bei einer Belichtung mit der Pentagon Six, die auch wie viele andere Pentagon Six Probleme mit den Filmtransport hatte, konnten sie bauchbare Abzüge liefern. Den Negativstreifen hatten sie nicht zerschnitten und sorgsam mit einer schönen Handschrift vermerkt, das die Belichtungen teilweise überlappen.
»Ob da noch was zu erkennen ist? Vielleicht ist da ein Foto von deiner Geburt darauf, könnte doch rein theoretisch sein.« sagte Kurts Tochter im Scherz.
In den kommenden Tagen kümmerte sich Kurt um die Zorki. Alles war soweit wieder gangbar gemacht, die Prismen gereinigt und nachjustiert. Auch das Objektiv wurde durch die Behandlung wieder leichtgängig und im Zusammenspiel mit den Prismen ein taugliches Instrument zum fokussieren der Bildebene auf dem Zelluloid. Einige Lederecken mußten nachgeklebt werden und an einer Stelle hatte sich der Vorhang lichtdurchlässig gezeigt, was er vorerst mit einem Eding schwärzte. Das fühlte sich gut an. Er hatte dann den neuen Ilford belichtet, wobei er besonders Motive ablichtete bei der die Entfernungsmessung durch die Tiefenschärfe der Motive prüfbar wurde. Die Aufnahmen und die dazugehörigen Blendenwerte und Belichtungszeit notierte er sich in ein kleines Büchlein mit schwarzen Kunstledereinband in dem beispielhafte Belichtungwerte und Umrechnungstabellen standen. Die Werte des Belichtungsmesser hatte er in einer weiteren Spalte notiert.
Zwei Tage später, der neue belichtete Film war mittlerweile auch in der Entwicklung, kam der alte Film aus der Zorki unbearbeitet zurück. »Es handle sich um einen Film bei dem die Standardentwicklung nicht zuverlässig arbeite,« notierten sie in schöner Handschrift, »sie empfehlen eine Entwicklung mit Hand.« Nun, Kurts Schwarzweißlabor war schon lange nicht mehr in Betrieb gewesen und die Chemie mit Sicherheit verdorben, aber nun war sein Interesse durch den Widerstand und die Einzigartigkeit der Sache geweckt. Wenn er wenigstens die Negative entwickeln könne, dann wird er über die digitale Weiterbearbeitung schon was herausholen können. Als er dann nach dem üblichen Prozedere den nassen Steifen aus der Entwicklerdose zog, war die Anspannung groß und die Euphorie wuchs ins unerträgliche als die Negative sichtbar wurden. Tatsächlich es war was drauf. Kontrastreich und scharf!
In den kommenden Tagen tauchte Kurt in die alten Bilder ein. Es waren Danziger Gebäude zu sehen, Krananlagen, offensichtlich von einer Winterreise an der Ostsee. Geschichtlich zuordenbare Aufnahmen konnte er nicht finden. Eigentlich habe er gehofft berühmte Personen und Ereignisse dokumentiert zu sehen, aber mit Ausnahme drei heiterer Kinder auf einem schwarzen Damenfahrrad im zerbombten Berlin, konnte er weder Orte noch Zeiten der Aufnahmen bestimmen.
Vier fünf weitere Bilder zeigten zwei junge Männer und eine Frau in Kleidern der 70ern. Es sah aus, als wären die Aufnahmen irgendwo im Westen entstanden. Sie saßen auf schäbigen Clubsesseln vor einem Nierentisch, an der Wand ein Poster von Patti Smith. Auf allen dieser Bilder wendet sich einer der beiden jungen Männer ab, die anderen beiden waren dem Fotografen zugewandt. Der Rest der Negative zeigt Autobahnraststätten und Landschaften, die offensichtlich in den 80ern und frühen 90ern gemacht wurden. Im Hintergrund eines der letzten Bilder, die sicher auf dem Oktoberfest in München entstanden, konnte er sich selbst als jungen Mann sehen der mit einer Kamera hantierte. An diese Kamera konnte er sich noch erinnern. Es war seine erste Spiegelreflex mit Schiebezoom. Von der Prismaabdeckung hatte er das Logo abgekratzt. Erst vor kurzen hatte er sie für kleines Geld verkauft. Vielleicht war noch ein Film drin.
KURZGESCHICHTE: Zunächst mochte er es nicht glauben das sein Päckchen schon heute kommen würde, aber als er den Postbus auf den Hof fahren sah, wußte er das sich der etwas tröge Tagesanfang noch wandeln konnte.