Ausgenudelt

 

 

   »Das Alte ist schon echt aus­ge­nu­delt« sagt mei­ne Toch­ter bei­läu­fig. »Hm, bei Whats App? Das ist doch schön«, denk ich mir kopf­schüt­telnd. Das mit den oran­gen Bril­len­bü­geln vor grü­nen Gar­ten­hin­ter­grund? Aber viel­leicht ist die Gül­tig­keit abge­lau­fen, ähn­lich wie bei Per­so­nal­aus­wei­sen? Quatsch, … wer nichts Neu­es lie­fert ver­schwin­det in der Time­line, so wird es sein. Also flux ein neu­es Sel­fi und ein Sta­tus-Spruch einlegen. 

     Wenn »nett« die klei­ne Schwes­ter von »Schei­ße« ist, weißt Du wie das ers­ten Dut­zend der vor­ge­stell­ten Sel­fis ankam. Und für den neu­en coo­len Sta­tus-Text gibt es auch kein okay, obwohl der Sinn absicht­lich nicht bis zum Ende des Spruchs reicht. Zu kon­stru­iert, zu viel gewollt? Und das, obwohl ich ein ech­ter Pro­fi im mich neu erfin­den bin. Oh man, was habe ich mir nicht schon alles selbst geglaubt? Blech­blä­ser, Kraft­sport­ler, Taxi­fah­rer, Kup­fer­dru­cker, Uhr­ma­cher, Foto­graph und Dich­ter. Bau­er, Kura­tor, Biker und Padd­ler. Schön­geist, Rauh­bein und Holz­fäl­ler. IT-ler, Mecha­ni­ker, Bogen­schüt­ze und Muesiggänger.

     Und nun? Heu­te lese ich viel, ein­fach nur weil ich es ger­ne habe, wenn sich eine Geschich­te Stück für Stück lang­sam im Kopf zusam­men setzt. Die Sin­ne wer­den frisch und es öff­net sich ein unbe­kann­ter Raum. Ganz ein­fach. Ehr­lich gesagt hege ich die Ver­mu­tung, das mit Tex­ten fast alles geht. Es ist ein phan­tas­ti­sches Mate­ri­al, das so gut in unse­rem kol­lek­ti­ven Geist refe­ren­ziert ist, das es fast so ist, als ob man beim schrei­ben jeman­den direkt in den Kopf tippt. Da ich mit den Jah­ren etwas schüch­tern gewor­den bin, büh­nen­scheu und nicht ger­ne in grös­se­rer Gesell­schaft ver­wei­le, kommt das Image des Bücher­wurm auch mei­nen Vor­lie­ben und Gewohn­hei­ten ent­ge­gen. Man­che lesen auch wahl­los gemisch­te Wor­te, die sie aus Zei­tun­gen und Maga­zi­nen aus­schnei­den und freu­en sich dar­über, wie sich beim Lesen ein »Zwangs­sinn« gene­riert. Das erin­nert mich an Phä­no­me­ne, die es bei der visu­el­len Wahr­neh­mung gibt. Was fehlt oder kei­nen Sinn ergibt wird ein­fach ergänzt oder bis zur »Sinn­fäl­lig­keit« modi­fi­ziert. Ob das was für Whats App ist?

     Also, dann gibts das Bild einer Lese­bril­le, den Kopf dazu kann sich jeder selbst machen.

KS, Kurt Sem­per, Mün­chen-Grün­wald im Juli 2017

DOSSIER

TAGEBUCH:  »Das Alte ist schon echt aus­ge­nu­delt« sagt mei­ne Toch­ter bei­läu­fig. »Hm, bei Whats App? Das ist doch schön«, denk ich mir kopf­schüt­telnd. Das mit den oran­gen Bril­len­bü­geln vor grü­nen Gartenhintergrund?